Wir hatten am 14. Juli 2022 einen Zeitzeugen an unserer Schule zu Besuch, welcher uns von seinem Überleben des Holocausts erzählte. Pavel Taussig, kurz nach Hitlers Machtübernahme in Preßburg (heute Bratislava) geboren, wuchs in einer wohlhabenden Familie in der damaligen Tschechoslowakei auf.
Er wurde evangelisch getauft, seine Eltern ließen sich danach vorrausschauend umtaufen. Dass sie jüdisch waren erfuhr Pavel erst etwas später.
Kurz nach 1936, als die Tschechoslowakei zerstört wird, hat die Familie zwar Fluchtgedanken, sieht dann allerdings noch keine Notwendigkeit zu einer Flucht, da es ihnen sehr gut geht. Gegen 1939 verschärft sich der Zustand und Juden und Jüdischstämmige werden nach und nach enteignet, entrechtet und vertrieben. So dürfen Juden gar nicht mehr in der Stadt wohnen, Personen jüdischen Abstammes müssen regelmäßig weiter in die äußeren Teile der Stadt ziehen. Fotoapparate, Radios und Teppiche werden ihnen abgenommen.
Pavels Familie hat durch die rechtzeitige Taufe das „Glück“, zu den Jüdischstämmigen zu gehören, welche wenigstens noch arbeiten dürfen, wenn auch für viel weniger Geld. Pavels Vater muss sich regelmäßig auf dem Polizeirevier präsentieren. Pavel selbst darf noch auf die staatliche Schule gehen. Man hat ihm bis dahin noch nichts von Hitlers Machenschaften erzählt. 1942 werden plötzlich alle Juden in Zügen außer Landes gebracht. Niemand wusste wohin. In Pavels Klasse verschwindet ein Mädchen, er weiß nicht, wieso und wohin und wartet lange auf sie. Seine Eltern weigern sich, ihm den Grund zu erklären, da sie ihn vor Bloßstellung bewahren wollen. So versteht Pavel auch nicht, weshalb zu seinen Geburtstagsfeiern keiner kommen darf und keiner ihn einlädt. Seine Mitschüler sind nett zu ihm, jedoch versteht er so manche Anspielung nicht.
Eines Tages gibt es ein Gesetz, welches auch Jüdischstämmigen den Zutritt auf öffentliche Spielplätze verbietet. Das Problem: Der Spielplatz in der Nähe ist einer der Orte, wo Pavel gerne und oft ist. Seine Eltern müssen ihn also aufklären. Sie bereiten sich lange vor und er hört oft ein „Samstagabend ist unsere Besprechung, vergiss das nicht!“. Er denkt viel darüber nach und kommt zu dem Schluss, dass seine Eltern ihm sagen wollen, dass sie den Weihnachtsmann und Osterhasen spielen oder die kleinen Kinder nicht von dem Storch gebracht werden. Als sie ihm nach und nach die Wahrheit erzählen fühlt sich Pavel sehr betrogen. Was kann er denn für seine Abstammung? Seine Eltern sagen ihm, dass er sich fügen muss, auch, wenn man es nicht möchte. So sollte er lieber selbst gegen die Juden stimmen. Stück für Stück erschlossen sich ihm frühere Geschehen und Handlungen. 1944 darf Pavel nicht, wie der Rest seiner Klasse auf das Gymnasium, sondern muss sich eine andere Klasse suchen. Familie Taussig zieht in ein bombenfreies, aber nicht deportationsfreies Dorf, wo er dann die obere Klasse der Dorfschule besucht.
Im Oktober 1944 wird die Familie beim Abendessen einer Feier verhaftet. Die Ausweise werden zerstört, jeder hat fünf Minuten zu Packen seiner Sachen, dann werden sie zu einer Sammelstelle gebracht, am Tag darauf in ein Sammellager. Pavel empfindet es „wie eine Freizeit mit Eltern, nur etwas komisch.“ Hintergründe versteht er nicht. In einem Viehwagen gefüllt mit rund 60 Menschen geht es in ein anderes Land im Norden. 48 Stunden später kommen sie in Auschwitz an. Dort werden sie von SS-Leuten in Abteil A getrieben, vorläufig mit der Familie. Pavel hält es nach wie vor für ein Abenteuer, nicht für eine Mordmaschinerie. Das Glück der Angekommenen: Die Gaskammern und Krematorien wurden zur Beweisvernichtung gesprengt. Man hatte nicht mit Neuankömmlingen gerechnet. Ein paar Tage später wurden die Frauen zur Arbeit in eine Munitionsfabrik gebracht, die jugendlichen Jungen werden tätowiert und kommen in eine Baracke. Sein Vater kommt aufgrund einer hochansteckenden, damals tödlichen Krankheit in den Krankenbau. Für Pavel am schlimmsten ist, dass es kaum zu essen gibt. Außerdem dazu, kommen die Zählapelle, die zweimal täglich vor den Baracken stattfinden und mindestens zwei Stunden dauern, in denen alle, auch Tote anwesend sein mussten. Die Lebenden haben fest an einer Stelle in der Reihe zu stehen.
Schöner ist, dass von den aus ganz Europa kommenden Jungs, auch welche dabei sind, die seine Sprache sprechen. So können sie sich Märchen und Geschichten erzählen. Zeitweise ist die Baracke in Quarantäne, da wieder eine ansteckende Krankheit die Runde macht. Deshalb müssen die Jungs nicht arbeiten, was ihnen aber ganz gut passt. Eines Tages kommt ein SS-Arzt und fordert zwei Jugendliche pro Jahrgang für medizinische Experimente. Die Belohnung ist eine Scheibe Brot, sehr verlockend für die ausgehungerten Jungs. Auch für Pavel, der jedoch auf dem Weg zu Arzt vom dritten Stock des Bettes etwas im Sinne von “langsam, drossel dein Tempo“, hört und gehorcht. Zwei andere Jungs sind vor ihm da. Von den beiden und den anderen Freiwilligen hören sie nur noch eine Todesmeldung.
Weihnachten 1944 gibt es kein Zählappell und für die Jungsbaracke zwei Kessel mit Nudeln, welche am nächsten Tag aufgefüllt werden. Endlich kann sich jeder richtig satt essen. Um den 20. Januar 1945 bekommen alle einen Würfel Margarine und einen Laib Brot, dann heißt es „Antreten, wir marschieren!“ und dann ging es los. In den Kleidungsstücken, die sie bei der Verhaftung im Oktober trugen, da es keine Häftlingskleidung für Kinder gibt. Pavel hat in der Zeit nichts gegessen, dazu fehlt die Zeit. Als er nach einer Nacht Pause aufwacht ist sein Laib Brot weg und er sehr schwach, als es weiter geht. Doch er darf nicht hinfallen, wer hinfällt wird erschossen. Hinter ihm gehen starke, junge Männer aus dem Schlachthof des KZs. Sie schubsen ihn vor sich her und er kann sich etwas erholen. Dann kommen sie endlich an einem Bahnhof an, wo es in engen Waggons ohne Dach weiter durch die Kälte geht. In einem Lager in Mauthausen, eigentlich für politisch Verfolgte und Partisanen, werden die Jungs dann weiter nach Melk gebracht, einem Bauwerk für militärische Einrichtungen, wo sie Kartoffeln mit Blechstücken schälen müssen, da Messer für Häftlinge nicht erlaubt sind. Dies empfanden sie aber gar nicht so schlimm, weil die Arbeit mal etwas Abwechslung zu Nichtstun mit sich brachte. Kurz darauf werden sie nach Brunnkirchen gebracht, wo es auf viel zu wenig Platz gar kein Essen mehr gibt.
Am 4. Mai hält ein amerikanischer Jeep vor der Tür des Lagers, welcher von den Häftlingen gefeiert wird. Zwei Tage später marschieren sie zurück in Richtung Westen, um endlich wieder nach Hause zu kommen. Pavel bleibt für zweieinhalb Monate in verschiedenen Krankenhäusern, bis er endgültig nach Hause geht. Dort findet er seine Eltern, kommt aber wegen Tuberkulose in der Lunge und in den Knochen für ein weiteres Jahr in ein preßburger Krankenhaus. Danach geht er wieder zur Schule. Später traf er die Mutter des Barackenmitbewohners, der die Märchen erzählt hatte und bei den medizinischen Versuchen ums Leben gekommen war. Als sie nach ihm fragte, traute sich Pavel nicht, ihr die Wahrheit zu sagen.
Pavel besuchte Auschwitz noch dreimal nach seiner Befreiung, unter anderem zum 75. Jahrestag zur Befreiung des KZs und mit Franz Steinmeyer. Sein Tattoo von damals sollte als Erinnerung bleiben.
Auf unsere Frage, wohin er seinen Stolperstein legen würde, wenn er dürfte, antwortete er „Oh, ich lebe ja noch (lacht), aber wenn, dann sollte er in Hausen in Frankfurt liegen, weil ich da seit 54 Jahren glücklich lebe.“
Zur Frage, was er für Gefühle er heute zum Faschismus empfindet, sagte er schlicht „Zum Kotzen, ich kann es einfach nicht verstehen.“
Taussig schrieb seine Geschichte auf Tschechisch auf. Sie erschien 2018 unter dem Namen „Chlapec, který přežil pochod smrti... a natruc jsem neumřel.“ (Der Junge, der den Todesmarsch überlebt hat... und nicht gestorben ist.).
Vielen Dank an Pavel Taussig, dass er für uns seine Geschichte erzählt hat und Maélie Alix, die dieses Zeitzeugengespräch für uns organisiert hat!
Theresa im Namen der Klassen 8d und 8b, 21.07.2022